In seinen PERSPEKTIVEN greift Ansgar Hörsting, Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, einen Aspekt aus dem Leben oder ein Thema aus der öffentlichen Diskussion auf.
Polarisierungen
Am Tag vor der Bundestagswahl 2021 fand der FeG-Bundestag in Ewersbach statt. Präses Ansgar Hörsting äußerte sich im Rahmen dieser Delegiertenversammlung zu einem Phänomen, das in Gesellschaft wie auch in Gemeinden zu beobachten ist: Polarisierungen.
W ir hören es überall und erleben es selbst auch: Polarisierungen nehmen zu. Ich sehe drei Quellen stark polarisierter Debatten: Erstens feuert digitale Kommunikation Missverständnisse an. Man sieht sich nicht persönlich und so fallen harte Worte viel leichter. „Fake News“ gab es zwar schon immer, aber durch die Digitalisierung ist die Menge unüberschaubar und dadurch schwerer durchschaubar.
Zweitens kann es geschehen, dass in einer Atmosphäre, in der Vieles harmonisiert wird, wo also nicht mehr richtig gestritten wird und entgegengesetzte Positionen ausgetauscht werden, die Polarisierer umso leichteres Spiel haben.
Drittens: In Deutschland (wie in weiten Teilen der westlichen Welt) fördert eine Denkweise Polarisierungen, nämlich ein übertriebener Dualismus: Die Neigung, in Spannung stehende Dinge nicht zu verbinden, sondern als unversöhnlich gegeneinander zu stellen (Wort – Tat | Gotteswort – Menschenwort | der Welt zugewandt – nicht von der Welt | usw.)
Der Wahrheit Jesu folgen
Es gibt Polarisierungen, die wirken sich befruchtend aus, weil sie neue Denkansätze und unbequeme Wahrheiten verdeutlichen können. Leute, die unbequeme Dinge aussprechen, können wichtige Lösungen vorwärts bringen. Auch Jesus hat polarisiert. Er hat Wahrheiten ausgesprochen, die klar machten, wo er und wo andere stehen. Aber er hat darin immer auch die Menschen gesehen.
Es ist nötig, Wahrheit in seinem Namen auszusprechen. Aber Achtung, wir dürfen Jesus nicht vor unseren ideologischen Karren spannen, sondern als seine Nachfolger ihm und seiner Wahrheit folgen. Mit Polarisierung ist deswegen auch meistens die zerstörerische Kraft von extremen Positionen ohne Würdigung der Argumente Anderer gemeint. Es ist der Populismus gemeint, der bewusst verkürzt und Andersdenkende diffamiert. Dem gilt es entgegenzutreten. Um der Wahrheit willen, um Jesu willen und um eines guten Miteinanders in Gemeinden und der Gesellschaft willen. Polarisierungen erkennen wir sowohl im gemeindlich-theologischen als auch im politisch-gesellschaftlichen Raum.
Gemeinde und Theologie
In theologischen Debatten, im evangelikalen Raum, auch in Freien evangelischen Gemeinden wird man plötzlich gefragt, ob man zu jener oder dieser Gruppe gehört. Es werden Etiketten verteilt und man soll sich entscheiden zwischen liberal, konservativ, charismatisch oder Anderes. Dann meint man, sich zwischen Lagern oder Etikettierungen entscheiden zu müssen.
In Gemeinden hat sich mancher Streit entwickelt, weil die Polarisierer Stimmung machen konnten: gegen Impfungen, gegen Impfgegner, gegen die Gemeindeleitungen, gegen Kritiker, gegen Präsenzgottesdienste, gegen digitale Gottesdienste, usw.
Wir haben als Bundesleitung einen Prozess angestoßen, der in Fragen der Theologie und Gemeindepraxis das Ziel verfolgt, dass wir geistliche Gemeinschaft mit mehr lebendigen Gemeinden leben und erleben. In diesem Prozess streben wir an, dass verschiedene Positionen, dass Menschen mit verschiedenen Positionen in einen fruchtbaren Dialog treten, dass Spannungen benannt werden können und dass wir erkennen, welche wir stehen lassen und welche ggf. gelöst werden müssen.
Die ersten Erfahrungen machen Mut. Sie zeigen, dass es Möglichkeiten geben muss, seine entgegengesetzten Positionen vernünftig austauschen zu können und sich den Rückfragen zu stellen, die andere haben. Sie zeigen, dass jeder das Bedürfnis hat, verstanden zu werden. Sie zeigen, dass manche Positionen sich wirklich entgegenstehen, dass sie aber nicht zwingend zu Polarisierungen und damit zu Verwerfungen führen müssen.
Gesellschaft und Politik
In politischen Debatten, wenn Zuspitzungen dazu führen, dass der politische Gegner nicht nur Gegner, sondern Feind ist. Wenn alle „Andersdenkenden“ pauschal verunglimpft werden. Wenn aus einem Kern Wahrheit eine ganze Ideologie gemacht wird. In gesellschaftlichen Debatten, wenn Rassismus, Antisemitismus und andere „-ismen“ die Diskussionskultur bestimmen.
Bei der Frage, wie die Regierung/Regierungen auf die Corona-Pandemie reagiert haben, z. B. bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoff. Einerseits soll die eigene Bevölkerung versorgt werden, andererseits gibt es Schutz nur bei einer weltweiten Impfkampagne.
Engagiert mitmachen
Am Tag nach dem Bundestag des Bundes Freier evangelischer Gemeinden findet die Bundestagswahl in Deutschland statt. Wir werden für Politiker beten, werden als Bürger mitdiskutieren und uns in dieser Welt engagieren. Eine Demokratie ist nicht per se gottgegeben. Aber es ist eine Regierungsform, die wir schätzen und deren Vorteile wir sehen. Aber eine
Demokratie braucht Bürger, die in den polarisierenden Debatten verbinden, wo es geht. Denn unversöhnliche Menschen gibt es immer wieder.
Yair Lapid, stellvertretender Premierminister in Israel und Architekt der momentanen Regierung, veröffentlichte seine nicht gehaltene Rede vor der Knesset am 13. Juni 2021: „In den letzten Jahren haben wir uns alle von Menschen zu Labels entwickelt – rechts, links, säkular, haredisch, jüdisch, arabisch. Diese Regierung wurde gebildet, damit wir aufhören, Etiketten zu sein und unsere gemeinsame Identität, als Menschen, mit all unseren Komplexitäten wiederzubeleben.“1
ANSGAR HÖRSTING | Präses Bund FeG | praeses.feg.de
1 Yair Lapid: „The past few years have seen us all turned from people into labels — right, left, secular, Haredi, Jewish, Arab. This government has been formed so that we stop being labels and revive our common identity, people, with all our complexities.” | link.feg.de/chyairlapid
Dieser Artikel ist erschienen in der FeG-Zeitschrift CHRISTSEIN HEUTE 10/2021 >>
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